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"Telekratie oder Mediokratie statt Mediendemokratie"

Schulleiter Christoph Müller (links) begrüßte Josef Kraus
Schulleiter Christoph Müller (links) begrüßte Josef Kraus

Josef Kraus gastierte am Maristen-Gymnasium

Er gilt als einer der profiliertesten Vertreter der Bildungspolitik, als eloquenter und wortgewaltiger Sprecher der schweigenden Mehrheit: Am Mittwochabend referierte Josef Kraus, pensionierter Leiter des Vilsbiburger Gymnasiums und mit einem Traumergebnis wiedergewählter Vorsitzender des 160000 Mitglieder starken Deutschen Lehrerverbands, am Maristen-Gymnasium in gewohnt launiger Weise über die Modalitäten in Talkshows. Davon hat er eine Menge Erfahrungen, denn er spielt mit rund 40 Auftritten in der gleichen Talkshow-Liga wie etwa Sahra Wagenknecht. Freilich ist er als Bayer, Mann und von seinen Bildungs- und Wertevorstellungen her ihr unmittelbarer medialer Kontrapunkt.

Die „Show“ dominiere gegenüber dem diskursorientierten „Talk“, so Kraus‘ Feststellung zu Beginn und vor einem kurzen geschichtlichen Rückblick. Seit 1951 sende das US-Fernsehen Talkshows, ab 1980 seien Alltagsmenschen und nicht nur Promis integriert worden. Das sei in Deutschland ab Hans Meiser zum nachmittäglichen Voyeurismus im „Unterschicht-Fernsehen“ degeneriert. Wobei er auch einmal – „meine größte Sünde“ – bei Schreinemakers über repressive Sexualmoral in Deutschland im Vergleich mit Papua-Neuguinea diskutiert habe. Mit „Je später der Abend“ im WDR und Club2 im ORF habe es aber seriöse Vertreter dieses Formats gegeben. Aber auch öffentlich-rechtliche Ausrutscher, als sich der Kommunarde Fritz Teufel und der damalige Finanzminister Hans Matthöfer mit Wasserpistole und Rotwein statt mit Worten „duelliert“ hatten. In Bekenntnisshows, Erotiktalks und sogar Kochshows als Derivaten der Talkshow werde viel „gelabert.“ 1996 sei der Höhepunkt mit wöchentlich 80 Talkshows gewesen, mittlerweile würden nur noch 50 davon ausgestrahlt. Talkshows seien preiswert: Eine Sendeminute koste gerade einmal zehn bis 20 Prozent einer „Tagesschau“-Minute. Und das, obwohl Günther Jauch samt seiner Produktionsfirma jährlich zwölf Millionen Euro kassiert hatte. Bei Anne Wills erstem Durchgang waren es nur acht Millionen gewesen. Und Talkshows seien mit regelmäßig 2,4 bis vier Millionen Zuschauern Quotenrenner. Ob das bei Anne Wills Position im Anschluss an den „Tatort“ liege, sei dahingestellt.

Dann wurde er ernst: Seien Talkshows die Seismographen der Zeit oder diktierten sei ihrerseits die politische Agenda? Und das mit Reizwort-Themen, mangelndem Tiefgang, mitgebrachten Claqueuren und „zweibeinigen Wanderpokalen“? Solche seien Wolfgang Kubicki ebenso wie Gregor Gysi oder Wolfgang Bosbach. Heraus kämen im Schnitt 54 Jahre alte und zu 72 Prozent männliche Teilnehmer, die zu 40 Prozent Politiker seien. Leute sähen zu, um Orientierung zu erhalten, um sich in ihrer Position bestärkt zu fühlen und um als passive Teilnehmer eine mittelbare Interaktivität durch eine Diskussion der Positionen am nächsten Tag etwa am Arbeitsplatz auszuüben. Die Wahrnehmung betreffe dabei zu 55 Prozent die Körperhaltung, zu 38 Prozent die Mimik, Gestik und Sprachmelodik und nur zu sieben Prozent das Inhaltliche. Daneben gebe es „psychologischen Kollateralschäden“, den Eindruck, bizarre Randprobleme seien gesellschaftlicher Mainstream sowie eine Trivialisierung hochkomplexer Sachverhalte. Und es führe zur „Telekratie“ oder „Mediokratie“ statt zu einer „Mediendemokratie“ – „Demos“, das Volk, sei rausgefallen. Ideen würden nicht mehr im Bundestag, sondern in Talkshows als „Parlamentssubstitut“ vorgestellt. Die Politik werde gar durch die Medien „kolonialisiert.“

Kraus selbst hatte sich zu den Themen Schule, PISA, Rechtschreibreform oder Gewalt an Schulen an Talkrunden beteiligt. Dabei habe er mit manchen Moderatoren positive Erfahrungen gemacht, mit anderen weniger gute. Vor allem, als er von einer Moderatorin konsequent in die Bayern- und Lehrer-Schublade gesteckt worden war. In Summe seien Moderatoren mimosenhaft und nicht bereit, Kritik zu tolerieren. Das habe der frühere Dauergast Jürgen Falter gespürt, nachdem er über „Oberflächlichkeit“ geklagt hatte. Zwei Tage vorher gebe es meist erst eine Einladung, in einem Fall hatte man ihn Sonntagnachmittag gegen 16 Uhr gefragt, ob er am Abend bei Jauch konservativer Ersatzmann für Hessens Ministerpräsidenten Bouffier sein wolle. Dazu habe er dann keine Lust gehabt, zumal er kurz zuvor aus Quotengründen ausgeladen worden war. Er konzentriere sich auf zwei, drei Schlagworte. Zu mehr als zwei bis drei Minuten netto komme in der Show niemand, da müsse man „plakativ daherkommen.“ Trotzdem gehe er immer unzufrieden heraus, denn es bleibe der subjektive Eindruck, zu wenig angebracht zu haben. Das hake er aber mittlerweile ab, er warte dann, ob am nächsten Tag Zustimmung (öfters) oder einen Shitstorm (seltener) folgten.

Schwierige Talkrunden seien die nach Schulmassakern oder solche zu Themen wie Inklusion mit Betroffenen gewesen. Wenn er neben einer Autorin sitzen müsse, die ein „Lehrerhasser-Buch“ geschrieben hatte sei das ebenso unangenehm wie ein naseweiser Schülersprecher, den er verbal nicht „plattmachen“ dürfe. Unangenehme Persönlichkeiten seien auch Daniel Cohn-Bendit oder der Rapper Sido (als Akronym für „Sch… in deine Ohren“) gewesen, aber auch Ranga Yogeshwar, der seine Sendungen als pädagogisch ach so wertvoll und Vorbild für den schulischen Alltag gepriesen habe. Interessant waren hingegen Begegnungen mit dem Schauspieler Ulrich Mühe, mit „Tatort“-Kommissarin Sabine Postel, mit Henry Maske, Guildo Horn oder zwei Nobelpreisträgern. Geld gibt es außer den Spesen für den „Normalo“ im Gegensatz zu einigen Schauspielern nicht. Warum tue er sich das dann an, werde er immer wieder gefragt. Zum einen habe er ein Mandat als Verbandsvorsitzender, zum anderen empfinde er es als wichtig, an der öffentlichen Meinungsbildung teilzuhaben. Und das will er weiterhin und wie gewohnt kantig: „Rundgelutschte gibt es genug“, so sein Resümee.

Kann jemand, der ständig in Talkshows zu Gast ist, eigentlich nicht seinen Job als Schulleiter ordentlich machen? Diese Frage beantwortete Furths Leiter Christoph Müller eingangs in seiner Begrüßung: Auch er sei skeptisch gewesen, habe aber Kraus in seiner eigenen Zeit in Vilsbiburg stets als einen erlebt, der auch nach einer um 22.45 Uhr in Berlin oder Köln endenden Talkshow am nächsten Morgen vor den meisten Lehrern anwesend war.

fi

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